„Und David gürtete sein Schwert über seine Kleider und versuchte zu gehen, aber er war es nicht gewohnt. Da sprach David zu Saul: Ich kann so nicht gehen, denn ich bin es nicht gewohnt. Und er legte sie wieder ab, nahm seinen Stab in die Hand, suchte sich fünf glatte Steine aus dem Bach und legte sie in die Hirtentasche, die er bei sich hatte, in den Vorratsbeutel. Die Schleuder in der Hand, ging er auf den Philister zu.“
1 Samuel 17, (Vers 38 bis 40)
Die Schleuder ist sein Smartphone, die Steine aus dem Fluss seine Instagram-Posts und wie David geht er vor seinen Truppen alleine auf Goliath zu…Wolodymyr Selenskkyi raubt uns mit seinem Mut den Atem. Wohl wissend, dass er auf den Todeslisten des Kreml ganz oben steht, erscheint der 44jährige mehrmals täglich vor der Kamera, stellt sich und seinen Körper symbolisch zwischen den Angreifer und sein Volk. In einem schlichten T-Shirt, ohne schwülstiges Dekor der Macht im Hintergrund, symbolisiert sein Auftreten die Verletzlichkeit, den Mut und – und so erschütternd es klingt – die Opferbereitschaft seines Volkes. Wir wissen, dass die Ukraine kein „Konstrukt“ (W.Putin) ist, weil wir Wolodymyr Selensky sehen. Putin hat sich seinen stärksten Gegner selbst erschaffen – weil er ihn für einen Komiker hielt.
Anders als der vermeintliche Goliath aus Moskau inszeniert sich der ukrainische Präsident extrem nahbar – im Dunkeln mit der eigenen Handykamera zwischen seinen Mitstreitern oder betont schlicht in gedeckten Farben hinter einem einfachen Rednerpult. Als russischen Truppen das größte Atomkraftwerk Europas beschießen, wird Selenskyj offensichtlich direkt aus dem Bett geholt: Übermüdet und erschüttert spricht er in grauem Neonlicht in sein Smartphone. Die apokalyptische Bedrohung spiegelt sich im Gesicht dieses tapferen Mannes. Und die Ohnmacht der Betrachter schlägt in kalte Wut um.
Verfolgt man Wolodymyr Selenskyjs Instagram Posts der letzten Wochen, scheinen sich die Spuren des Krieges immer tiefer in sein Gesicht einzuschreiben – der Krieg um die Herzen und Köpfe findet auf Social Media in Echtzeit statt und fordert den ganzen Politiker und Menschen. Jede und jeder kann und soll sehen, dass der Präsident die Leiden seines Volkes teilt. Bescheidenheit im Auftritt macht einen Führer oder eine Führerin authentisch, denn Pomp und Charisma sind nicht dasselbe. Die stalinesken Inszenierungen eines Wladimir Putin im weißen Eispalast des Kreml zeigen das nur zu deutlich. Aber das Leiden und die Erschöpfung, die Aufrichtigkeit und der Einsatz des eigenen Lebens, die der ukrainische Präsident täglich sichtbar macht, fordert uns und seine Landsleute heraus: Seht her, ich nehme die Schleuder und gehe voran.
Quelle:Instagram
Es war nicht eine Steinschleuder, es waren die Boxhandschuhe, mit denen die Klitschko-Brüder berühmt wurden. Ebenso wie der Präsident hätten sie fliehen können – blieben aber und riskieren viel mehr als in jeden Boxkampf, denn Wladimir Putin wird auch ihnen nie verzeihen. Vitali und Wladimir Klitschkow nutzen ihre internationale Bekanntheit und ihre weltweite Social Media Community um Unterstützung für den Widerstand der Ukrainer zu mobilisieren. Dabei inszenieren sie sich mehr “in the field“ als der ukrainische Präsident und vor allem kämpferisch – ein persönlicher Einsatz, der zu ihren bisherigen Auftritten als erfolgreiche Sportler, Unternehmer und Politiker passt. Die Klitschko-Brüder sind es gewohnt, ihren ganzen Körper für ihren Erfolg einzusetzen, ihre Posts vermitteln ein zupackendes Kämpfertum und wirken provozierend mitreissend: Man ist dabei, wird direkt angesprochen, ist herausgefordert, sich zu positionieren.
Zum ersten Mal machen wir in Europa die Erfahrung, welche emotionale Waffe die Bildwelten auf Social Media sind. Mit nur wenigen Hashtags gelangt man mitten ins Kampfgeschehen, begegnet den Protagonisten auf Armlänge mit ihren Smartphones. Das war schon 2014 beim Kampf um den Maidan zu beobachten und genauso wie damals können wir uns der Authentizität der Bilder nicht entziehen – ob die Ansprachen eines wütenden Präsidenten, den kämpferischen Posts der Klitschkos oder den wackeligen Handybildern von Unbewaffneten, die russische Panzer stoppen:
diese Bildern machen uns zu emotional Beteiligten und sind Teil des Kampfes um die Köpfe und Herzen in den westlichen Staaten. Denn ohne die politische Akzeptanz in den Bevölkerungen der EU und den USA gibt es keine Unterstützung für die Ukraine. Denn die Folgen dieses Krieges sind nicht nur Angst, Aufrüstung und steigende Energiepreise: Die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr verdrängen andere politische Notwendigkeiten von der Agenda – Bildung, Digitalisierung, Infrastruktur, Gesundheit, war da was?
Im gleichen Moment erleben wir die Skurrilität der digitalen Kommunikation: In meinem Social-Media-Feed konkurrieren die dramatischen Statements aus Kiew mit Autowerbung, Reisetipps und Bibis Beauty Palace. Instagram & Co sind zu Depeschendiensten der psychologischen Kriegführung geworden und bleiben doch Jahrmärkte der Eitelkeit. Gleichzeitig zeigt sich hier die Verantwortung der Plattformbetreiber von Google bis Facebook: Sie prägen unser Bild dieses Krieges und tragen die Gefahr der programmierten Verzerrung in sich. Unvergessen ist Putins Eingriff in den amerikanischen Wahlkampf 2016 und dessen Folgen. Die Bataillone des Cyberkrieges werden nicht ruhen unsere Perspektive auf diesen Krieg zu beeinflussen, denn es geht um zu viel.
In all dem Leid, der Entwurzelung und Zerstörung bieten bekannte Protagonisten wie der ukrainische Präsident und die Klitschkos mit ihren medialen Auftritten Halt und Orientierung, machen durch ihren persönlichen Einsatz den Unterschied: Hey Follower, es ist Krieg, wo stehst Du? Selbst wenn wir das Smartphone ausschalten, werden wir der Antwort auf diese Frage nicht ausweichen können. Hier in Berlin ist der Krieg schon am Hauptbahnhof angekommen.
Jost Listemann, Politikwissenschaftler, Produzent und Hochschullehrer: Als TV-Journalist berichtete er in den 90er Jahre für verschiedene TV-Sender aus dem Berlin der Wendezeit, anschließend arbeitete er in längeren Rechercheprojekten in den Filmarchiven Vietnams und der DDR-Wochenschau. Seit 2005 betreibt er die Produktionsgesellschaft TIME:CODE:MEDIA GmbH, zu deren Kunden öffentliche Institutionen und globale Marken gehören. An der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft/Berlin unterrichtet er internationale Journalisten und Unternehmenskommunikatoren, an der Universität Halle/Wittenberg forscht er zu „Politische Repräsentation im digitalen Raum“.